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Do 21.11.2024 20 Uhr, Herkulessaal der Münchner Residenz
Anna Clyne (*1980)
Restless Oceans
John Psathas (*1966)
Leviathan - Konzert für Schlagzeug und Orchester
I. Hightailin' to Hell
III. Soon We'II All Walk On Water
IV. A falcon, a storm or a great song?
Amy Beach (1867-1944)
Symphonie e-Moll op. 32 „Gaelic"
I. Allegro con fuoco
II. Alla siciliana - allegro vivace
IV. Allegro di molto
Joseph Bastian
Leitung
Alexej Gerassimez
Schlagzeug
Ozean der Weiblichkeit
Anna Clyne: Restless Oceans
Der Ozean. Unendliche Weiten, blaue Wogen, schimmernde Wellen. Fast alle Komponistinnen und Komponisten der Musikgeschichte haben sich irgendwann einmal von ihm inspirieren lassen. Doch dieses Konzert bringt keine sanft plätschernden Beachclub-Sounds, sondern geht aufs Ganze.
Das zeigt sich schon im ersten Stück des Abends, „Restless Oceans“ von Anna Clyne. Die Komponistin begreift das Meer nämlich als Metapher für das Weibliche. Ihr kurzes, aber packendes Stück schrieb sie für ein reines Frauenorchester, das Concordia Orchestra, das die Dirigentin Marin Alsop 1984 als Gegenpol zur immer noch männlich dominierten Klassik-Szene ins Leben rief. Uraufgeführt wurde „Restless Oceans“ 2019 zur Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos, bei dem Alsop für ihre Verdienste um Diversität in der Musik ausgezeichnet wurde.
Den Titel und die Inspiration zum Werk entlehnte Clyne dem berühmten Gedicht „A Woman Speaks“ der Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde aus demselben Jahr 1984. Lorde, die sich selbst als „Schwarze, Lesbe, Feministin, Mutter, Dichterin, Kriegerin“ bezeichnete, formuliert darin eine Art naturmystisches, selbstbewusst weibliches Credo. Entsprechend wollte Clyne ausdrücklich ein „trotziges“ Stück schreiben, das „die Kraft der Frauen beschwört“. Auch wenn im heutigen Konzert nicht nur Frauen mitwirken, dürfte diese Message spürbar werden. Dafür sorgt allein schon, dass die Musikerinnen (und Musiker) nicht nur spielen, sondern auch stampfen und singen und ganz am Ende … Ach, lassen Sie sich überraschen!
Anna Clyne wurde 1980 in London geboren und begann schon als Kind zu komponieren. Als ihr erstes Stück öffentlich aufgeführt wurde, war sie erst elf Jahre alt. Sie studierte in Edinburgh und an der Manhattan School of Music in New York. In der Folge wurde sie Residenzkomponistin beim Chicago Symphony Orchestra und beim Baltimore Symphony Orchestra, dessen Chefdirigentin Marin Alsop ist. Zuletzt füllte sie diese Rolle beim Helsinki Philharmonic Orchestra und dem BBC Philharmonic aus. Zudem schrieb sie Auftragswerke für ein Dutzend hochklassige Konzerthäuser in aller Welt. Die englische Klassik-Website „Bachtrack“ führt sie unter den Top 10 der meistgespielten zeitgenössischen Komponisten. Allein ihr Cellokonzert „Dance“, eingespielt von Inbal Segev und dem London Philharmonic Orchestra, wurde auf Spotify über 10 Millionen Mal abgerufen.
Müll-Pastorale
John Psathas: Leviathan - Konzert für Schlagzeug und Orchester
John Psathas, geboren 1966 in Neuseeland als Sohn griechischer Immigranten, feierte seinen internationalen Durchbruch 2004, als seine Musik bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Athen erklang. Für seinen langjährigen Freund Alexej Gerassimez schrieb er 2021 das höchst virtuose Schlagzeugkonzert „Leviathan“ – benannt nach einem mythischen Seeungeheuer. Für Psathas ist das Monster real, allerdings menschengemacht: Er begreift es als Metapher für die weltweite Verschmutzung der Meere. „Unserem Planeten geht es schlecht“, schreibt er dazu. „Der erste Satz Hightailin' to Hell (Flucht in die Hölle) evoziert das außer Kontrolle geratene Rennen der Menschheit in Richtung der Katastrophe. Es herrscht fast eine Party-Atmosphäre, als würden wir im Angesicht des Endes tanzen.“
Auf die Themen Umweltverschmutzung und Nachhaltigkeit verweist schon das Instrumentarium aus Schrott und Plastik. Der dritte Satz Soon We’ll All Walk on Water (Bald werden wir alle auf dem Wasser wandeln) nutzt eine einzelne Wasserflasche: „Dieser an sich harmlose Gegenstand, der jeden Tag millionenfach hergestellt, konsumiert und weggeworfen wird, steht stellvertretend für den Wahnsinn, unsere Welt mit so viel Plastik zu verpesten. Während der Arbeit an dem Konzert blickte ich auf Bilder von riesigen schwimmenden Müll-Inseln, von denen einige so groß sind wie kleine Länder – etwa der Great Pacific Garbage Patch. Ich stellte mir vor, dass sich diese Inseln eines Tages verbinden könnten, so dass man von Australien nach Asien oder Europa nach Amerika zu Fuß gehen kann. Übers Wasser wandeln, aber das Gegenteil von göttlich.“
„Leviathan“ entstand im Rahmen des „Beethoven Pastoral Project“, einer Initiative der UN und des Beethoven-Jubiläums-Jahres 2020. „Ich hatte dieses berühmte Bild von Beethoven in der Natur vor Augen“, erklärt Psathas, „und ich fragte mich, was er wohl zum Zustand unserer Welt sagen würde."
Der letzte Satz im vertrackten 7/16-Takt bezieht sich auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.“ Es endet nachdenklich mit der Zeile „Bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang?“ Psathas möchte an die Hoffnung glauben, doch noch alles zum Guten wenden zu können. Ein Duett zwischen Solist und Solo-Geige wirkt wie ein Gebet. „Doch mit dem bloßen Wunsch alleine ist es nicht getan. Es braucht Stärke, Intelligenz, Handeln mit Blick auf das Ziel. Darum nutzt die Musik hier – ganz im Sinne von Beethovens Spirit – Stahl und Trommeln, Momentum und Drive.“
Den eigenen Weg gegangen
Amy Beach: Symphonie e-Moll „Gaelic“
Sie war die erste Amerikanerin überhaupt, die eine Symphonie schrieb: Amy Beach. Ihr Name steht für aufflammendes weibliches Selbstbewusstsein am Ende des 19. Jahrhunderts und für die künstlerische Emanzipation der USA als Nation. Und doch ist ihre Geschichte – wie die so vieler anderer Komponistinnen – sowohl bewundernswert als auch tragisch.
Geboren 1867 im US-Bundesstaat New Hampshire, zeigte Beach früh alle Anzeichen eines Wunderkindes. Mit einem Jahr soll sie 40 verschiedene Lieder beherrscht haben, mit zwei improvisierte sie zusätzliche Stimmen, mit drei konnte sie lesen, mit vier schrieb sie eigene Walzer für das Klavier – auch wenn gerade keins in der Nähe war. Dabei kam ihr zupass, dass sie über ein absolutes Gehör verfügte und Synästhetin war, also Töne als Farben sah, was bei der Orientierung auf den Klaviertasten half. Ihre Eltern förderten sie einerseits, widerstanden aber der Versuchung, sie als Sensation zu vermarkten. Dennoch debütierte sie mit 16 Jahren als Solistin in der Bostoner Music Hall.
So hätte ihr eine glänzende Karriere bevorgestanden – doch zwei Jahre später heiratete sie einen 24 Jahre älteren Arzt, der nurmehr zwei Auftritte pro Jahr tolerierte und Kompositionsunterricht ganz untersagte. Halb aus Eifersucht und halb aus der damals verbreiteten absurden Meinung heraus, eine Frau habe nicht im Rampenlicht zu stehen. (Mit demselben Argument wurde Fanny Mendelssohn, die ebenso talentiert war wie ihr Bruder Felix, verheiratet und im heimischen Salon geparkt.) Beach machte das Beste daraus, bildete sich autodidaktisch fort und publizierte und konzertierte eben unter dem Namen ihres Mannes. Erst als er nach 25 Jahren Ehe das Zeitliche segnete, wurde sie frei, trat uneingeschränkt auf, bereiste Europa und unterrichtete am New England Conservatory.
Ihre „Gaelic Symphony“ entstand 1894 unter starkem Einfluss von Antonín Dvořák, der zu dieser Zeit in den USA lebte, verpflichtet als Geburtshelfer einer genuin amerikanischen Musik. In seiner Neunten Symphonie „Aus der Neuen Welt“ verarbeitete er unter anderem Melodien, die er sich von indianischen Ureinwohnern hatte vorsingen lassen. An dieser Stelle ging Amy Beach einen anderen Weg: „Wir [in Neuengland] sind doch viel mehr von den alten englischen, schottischen und irischen Liedern geprägt, die wir von unseren Vorfahren übernommen haben.“ Entsprechend basieren die Themen ihrer klassisch viersätzigen Symphonie auf Melodien aus dem gälischen Sprachraum. Die Premiere 1896 in Boston geriet zu einem Triumph, der sich auch 1913 bei Gastspielen in Deutschland wiederholte: Ein Hamburger Kritiker schwärmte von ihrer „höchsten musikalischen Begabung – die erste Amerikanerin, die imstande war, Musik von exzellenter Qualität nach europäischem Maßstab“ zu komponieren.
Programmtexte: Clemens Matuschek
Ein Verfechter des Unerhörten
Alexej Gerassimez, Schlagzeug
Der in Essen geborene Perkussionist Alexej Gerassimez ist als Musiker so vielseitig wie sein Instrumentarium. Er ist nicht nur ein phänomenaler Virtuose, sondern ein kreativer und intelligenter Musiker, mit einer unglaublichen Energie und großem Farbenreichtum.
Sein Repertoire reicht von Klassik und Neuer Musik über Jazz bis hin zu Minimal Music und erweitert sich durch eigene Kompositionen und neue Konzerte, die ihm auf den Leib geschrieben werden. Darunter die Uraufführung von John Psathas Konzert „Leviathan“ mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Markus Poschner in der Berliner Philharmonie oder die Premiere von Kalevi Aho's Doppelkonzert für Viola und Perkussion mit dem Lahti Symphony Orchestra unter Anja Bihlmaier, welches auch für das Label BIS Records aufgenommen wurde. Das Schlagzeugkonzert der japanischen Komponistin Malika Kishino erlebte beim Essener NOW-Festival unter der Leitung von Jonathan Stockhammer seine erste Aufführung.
In der Saison 2023-2024 war Alexej Gerassimez Artist-in-Residence der Tonhalle Düsseldorf und des Staatstheaters Augsburg und ging mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Edward Gardner auf Tour. In der Saison 2024-2025 folgt er Wiedereinladungen vom Konzerthaus Berlin, der Essener Philharmoniker, der NDR-Radiophilharmonie und der Münchener Symphoniker und wird mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg in der Elbphilharmonie zu Gast sein. Im März 2025 kuratiert Alexej Gerassimez den Frühling der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern auf Rügen. Regelmäßig tourt er mit seiner eigenen Percussion Group in Sälen wie Elbphilharmonie, Alte Oper Frankfurt, Tonhalle Düsseldorf, Konzerthaus Dortmund, Muziekgebouw Amsterdam und bei Festivals wie dem Rheingau Musik Festival, Schleswig-Holstein Musikfestival und dem Heidelberger Frühling.
Zu seinen Partnern zählen die Cellistin Anastasia Kobekina, die Pianisten Arthur und Lucas Jussen und der Jazzpianist Omer Klein. Das Programm „Starry Night“ mit dem dem SIGNUM saxophone ist bei Berlin Classics als Album erschienen.
Alexej Gerassimez ist Professor für Schlagzeug an der Hochschule für Musik und Theater in München.
Im Takt unserer Zeit
Joseph Bastian, Chefdirigent und Künstlerischer Leiter
Joseph Bastian ist seit der Saison 2023/24 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter der Münchner Symphoniker. Der französisch-schweizerische Dirigent wird für seine „absolute Präzision und sein ruhiges und meisterhaftes Auftreten“ gefeiert und ist bekannt für die „bemerkenswerte Partnerschaft“, die er mit den Orchestermusikern eingeht.
Zu seinen jüngsten und künftigen Projekten gehören Dirigate beim WDR Sinfonieorchester, dem Bayerischen Staatsorchester, dem Rundfunksinfonieorchester Berlin, dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo,
Joseph Bastian ist zudem Chefdirigent des Orchestre Dijon Bourgogne, mit dem er zum ersten Mal beim Festival International de Musique de Besançon gastierte. Zudem bringt er dort gemeinsam mit dem renommierten Neurowissenschaftler Emmanuel Bigand Musik und Wissenschaft zusammen und geht auf die spannende Suche nach der Reise der Töne in unsere Gehirne und Körper.
Als Principal Conductor des Asian Youth Orchestras konnte er das Spitzenensemble zum ersten Mal nach der Pandemie wieder zurück nach Asien führen. Nach gefeierten Konzerten in Italien und Deutschland, u.a. beim Mahler Festival in Toblach und dem Festival Young Euro Classic im Konzerthaus Berlin, bereiste das Orchester Hong Kong, China, Thailand, Singapur, Taiwan und Japan.
Bastian hat eine besondere Affinität für Oper und gab mit Haydns „Il mondo della Luna“ 2022 sein Debüt am Opernstudio Zürich. 2021 leitete er eine erfolgreiche Produktion von „Die Bernauerin“ bei den Carl-Orff-Festspielen. Am Luzerner Theater debütierte er mit Humperdincks "Hänsel und Gretel", am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit Verdis "La Traviata".
2016 gewann Joseph Bastian den Neeme-Järvi-Preis des Gstaad Menuhin Festivals, 2019 wurde ihm der Eugen-Jochum-Preis verliehen. Eine enge Zusammenarbeit als Assistent verband ihn mit Mariss Jansons, Daniel Harding und Vladimir Jurowski. Er spielte Cello und Posaune, war Bassposaunist des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und Mitglied des Bayreuther Festspielorchesters.
Dynamisch, mutig, visionär
Mit viel Innovationskraft und Ideenreichtum sowie einer gehörigen Portion Experimentierfreude sind die Münchner Symphoniker ein außergewöhnlicher Klangkörper. Durch facettenreiche und anregende Programme entdeckt das Orchester gemeinsam mit seinem Publikum neue Klangwelten und lädt dazu ein, (nicht nur) klassische Musik neu zu denken.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1945 bieten die Münchner Symphoniker ein Forum für hervorragende Künstlerpersönlichkeiten der jüngeren Generation und kooperierten u.a. mit Julia Hagen, Asya Fateyeva oder Fatma Said. Aber auch renommierte Namen wie Alondra de la Parra, Maximilian Hornung, Arabella Steinbacher, Christian Schmitt oder Jonas Kaufmann schaffen musikalische Höhepunkte. Das unkonventionelle Spiel mit der Tradition zeichnet das Orchester dabei ebenso aus wie die Zusammenarbeit mit Musikerinnen und Musikern anderer Musikgenres.
Neue Wege gehen die Münchner Symphoniker insbesondere mit visionären Projekten im Bereich der kulturellen Bildung: Das mit dem KULTURLICHTER – Deutscher Preis für kulturelle Bildung ausgezeichnete Projekt „MSY goes VR“ bringt klassische Musik mittels innovativer Virtual Reality-Technologie zu den Menschen und schafft eine neue Form der Nahbarkeit. Mit MASTERS OF INCLUSION starteten die Münchner Symphoniker gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Geistige Entwicklung der LMU sowie einem inklusiven Ensemble der Münchner Kammerspiele ein besonderes Konzertprojekt, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung auf der Bühne stehen.
Seit mehr als 20 Jahren bringen die Münchner Symphoniker außerdem mit beispiellosem Engagement Musik zu Schülerinnen und Schülern und bei ihren beliebten Probenbesuchen Kinder zur Musik in den Probensaal. Und als Orchester des Wandels haben sie sich zum Ziel gesetzt, musikalisch auf die Dringlichkeit des Klimaschutzes und eines nachhaltigen Lebensstils hinzuweisen.
Eine große Affinität zur Filmmusik ist tief in der Historie der Münchner Symphoniker verwurzelt: mehr als 650 Filmmusiken wurden von ihnen eingespielt, darunter der Oscar-nominierte Soundtrack zu „Das Schweigen der Lämmer“ oder die Musik für Filmklassiker wie „Die unendliche Geschichte 3“ und „Das Boot“.
In rund 100 Konzerten pro Spielzeit sind die Münchner Symphoniker ohne eigenen Konzertsaal als Klangbotschafter überall zu Hause: in den Münchner Konzertsälen ebenso wie den Clubs (Prinzregententheater, Isarphilharmonie, Allerheiligen-Hofkirche und Technikum im Werksviertel-Mitte), dem Münchner Umland (Garmisch-Partenkirchen und Kempten u.a.) ebenso wie bei Konzerttourneen auf den großen Bühnen im In- und Ausland. Kurzum: Die Münchner Symphoniker bringen den „Klang unserer Stadt“ zu den Menschen in München und darüber hinaus.
Der innovative und agile Klangkörper von heute zählt Musikerinnen und Musiker aus 17 Nationen und blickt auf eine außergewöhnliche Entwicklung zurück. Mit Joseph Bastian als Chefdirigenten und Künstlerischem Leiter haben die Münchner Symphoniker seit der Saison 23/24 den idealen Partner, um auch zukünftig mutige und visionäre Konzertprojekte zu realisieren und die Liebe zu klassischer Musik immer neu zu entdecken.